Stürmische Zeiten
Eine Zeitreise ins Rothenburg der 1920er Jahre
Die 1920er-Jahre gelten gemeinhin als «stürmisch». Nach dem Ende des zerstörerischen Ersten Weltkriegs kam in Grossstädten wie New York, Berlin oder Paris ein neues Lebensgefühl auf. Radio, Kino und Jazzmusik revolutionierten das Leben. Insbesondere für Frauen boten sich nun Freiräume, wo vorher keine waren. Nicht nur erstritten sie in Deutschland, Österreich und den USA das Stimm- und Wahlrecht. Viele von ihnen wollten auf die während des Krieges neu erworbenen Fähigkeiten nicht verzichten und zogen Ungebundenheit und ökonomische Unabhängigkeit der Ehe vor. Insbesondere in den genannten Grossstädten ergab sich dabei eine emanzipatorische Aufbruchstimmung. In der Schweiz sah die Situation allerdings anders aus.
Hierzulande waren nicht nur technische Errungenschaften weniger verbreitet – während man in Chicago den Staubsauger genoss, fehlte in alpinen Regionen der Wasseranschluss. Auch die Geschlechterrollen hatten sich kaum verändert. Einigermassen vom Ersten Weltkrieg verschont, waren Männer und Frauen in der Schweiz auch weniger in neue soziale Rollen katapultiert worden. Blies in der Schweiz auf gesellschaftlicher Ebene ein ruhigerer Wind als anderswo, wurde es im Sommer 1927 jedoch im wahrsten Sinne des Wortes «stürmisch».
Am 2. August suchte ein katastrophales Unwetter die Schweiz heim. Die spezielle Wetterlage bildete sich in der Gegend von Montreux und zog dann über Thun ins Napfgebiet bis zum Zugersee, wo sich das Unwetter endlich abschwächte. Die luzernische Gemeinde Rothenburg wurde besonders hart getroffen. «Das Trommelfeuer der Eisklötze hämmerte zwanzig Minuten darauf los» berichtete die lokale Presse in den folgenden Tagen. Tatsächlich donnerten riesige, faustgrosse Hagelkörner auf Menschen und Mobiliar nieder und zerstörten Ziegeldächer und Fensterscheiben. Regen, der auf den Hagel folgte, setzte Gebäude unter Wasser. Zwar wurde wie durch ein Wunder niemand verletzt, doch der Sturm hinterliess derart grosse Schäden, dass die Hilfe mittels des Militärs und eines neu gegründeten Komitees organsiert werden musste.
Am Sonntag nach dem grossen Sturm fand sich eine ungewohnte Menschenmasse in Rothenburg. Journalisten beschrieben die Szenerie als «Wallfahrt nach Rothenburg». «Tausende und Abertausende von Menschen» hätten die Sturmschäden bestaunt. «Der Verkehr mit Vehikeln aller Art war in den Hauptstunden des Nachmittags geradezu besorgniserregend». Viele Menschen reisten mit der Trambahn aus der Stadt Luzern an und wurden von der «Automobilgesellschaft Rottal» von der Tramhaltestelle ins Dorfzentrum gebracht.
Was die Presse mit Worten beschreibt, ist im Pfarrarchiv Rothenburg anschaulich bebildert. Fotografien des Grossereignisses ermöglichen uns ein visuelles Eintauchen in das Rothenburg der 1920er Jahre. In eine Zeit also, in der Frauen Topfhüte und Männer Panamahüte trugen und Autos nicht schneller als 30km/h fahren durften. Eine Zeit, wo sowohl das alte Gemeindehaus im Flecken, als auch die Kirche aus dem 19. Jahrhundert noch das Rothenburger Ortsbild prägten.
Apropos Kirche: Immerhin fand diese in Folge der Zerstörung schneller als angedacht zur Renovation. 1928 fasste die Kirchgemeinde den Beschluss zum Um- und Ausbau und 1933 erteilte der Regierungsrat die Baubewilligung. Die veränderte Ansicht Rothenburgs ist jedoch nicht das Einzige, was unseren Besuch in Rothenburg in den 2020er Jahren von den 20er-Jahren des vorherigen Jahrhunderts unterscheidet. Der Wandel ist auch nicht in der Mobilität zu suchen. So sind wir Archivar*innen mit Bus, Zug und Velo angereist – mit Verkehrsmitteln also, die sich bereits vor hundert Jahren wachsender Beliebtheit erfreuten. Im Gegensatz zu damals ist es den Frauen in unserem Team aber möglich, zu wählen, abzustimmen, einer freien Berufswahl nachzugehen und wirtschaftlich unabhängig zu sein – ohne damit einen Sturm der Entrüstung auszulösen. Und wenn wir bereits bei den Wetteranalogien sind: «Wer Wind sät, wird Sturm ernten» trifft auf diesen Wandel glücklicherweise nicht zu. Passender lässt sich hier vielmehr schliessen mit: «Steter Tropfen höhlt den Stein».
Text: Judith Kälin
Quellen/Bilder: Pfarrarchiv Rothenburg: SB1- 011/12
Literatur:
- Gössi, Anton: Die Pfarrei Rothenburg und ihre Kirchen, Rothenburg 2016.
- Schweizer Geschichte – Siegeszug des Automobils (nationalmuseum.ch)
- 19270802 01 SSWDHC5 Zentrale Voralpen – Schweizer Sturmarchiv
- Tanner, Jakob: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München 2015.